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Die Armut wächst in die Mitte

Caritas München und Oberbayern | Aktuelles und Themen, München, 15.10.2022

Der Caritasdirektor über Armutsrisiken in Deutschland, Eigenverantwortung und die Zeit, in der er selbst ums Auskommen kämpfen musste

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen erklärt 1992 den 17. Oktober zum Internationalen Tag der Beseitigung der Armut. Einer, der sich damit auskennt, ist Hermann Sollfrank. Er leitet den Caritasverband München-Freising, mit mehr als 10 000 Mitarbeitenden einen der größten Wohlfahrtsverbände. In diesem Jahr begeht die Caritas in München und Oberbayern ihr 100-jähriges Bestehen.

AZ-INTERVIEW mit Hermann Sollfrank

Der 58-jährige Oberpfälzer begann seine Berufskarriere mit dem Bau von Lokomotiven. Er studierte Sozialarbeit und Pädagogik und wurde Professor. Seit letztem Herbst ist er Caritasdirektor der Erzdiözese München/Freising.

AZ: Herr Sollfrank, was ist eigentlich Armut?
HERMANN SOLLFRANK: Wer weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens in einem Land verdient, gilt nach EU-Definition als einkommensarm. Das ist in Deutschland fast ein Sechstel der Bevölkerung. Für 2021 lag diese Armutsgrenze bei rund 30 000 Euro brutto im Jahr.
 

Das hört sich nicht nach so wenig an.
Ziehen Sie davon mal eine Großstadtmiete ab. Zwar geraten die wenigsten bei einem solchen Einkommen bereits in existenzielle Not, aber die Möglichkeiten der Teilnahme reduzieren sich: Kultur, Sport, Ausflüge, Restaurantbesuche, Urlaub, Medien, Digitalisierung. Und gleichzeitig nehmen die Risiken zu.
 

Inwiefern?
Weil in einer solchen Situation nichts mehr dazu kommen darf: keine längere Erkrankung, kein Job-Verlust, keine Trennung vom mitverdienenden Partner. Dann ist das Risiko eines Absturzes in materielle Not ziemlich real.
 

Zumal diese Menschen keine Reserven haben dürften.
Ja, wenn kein Vermögen vorhanden ist, greifen alle Armutsszenarien sofort. Viel mehr Menschen aus der früher gut situierten Mittelschicht müssen heute ihr gesamtes Vermögen für die Versorgung im Alter einsetzen, seien es Aufwendungen für die Versorgung zuhause oder im Pflegeheim. In den letzten Lebensjahren ist nicht mehr viel da. Die Mittelschicht wird schleichend schmäler, das Armutsrisiko geht in die Breite.
 

Was sind die Faktoren, die Armut auslösen können?
Die Bandbreite ist groß: alleine ein Kind erziehen, Schicksalsschläge, Krankheit, Migration, Sprachprobleme, Langzeitarbeitslosigkeit, prekäre Entlohnung, ganz aktuell die Energiekrise. Und natürlich die Mieten, vor allem in den Großstädten, die sind heute eines der größten Armutsrisiken. Es laufen Jahr für Jahr immer noch mehr Sozialbindungen von Wohnungen aus, als dass neue Sozialwohnungen gebaut werden. Auch in Bayern!
 

Was macht Armut mit Menschen?
Sie kann Angst erzeugen und mutlos machen! Wer armutsnah lebt und keine Rücklagen hat, weiß, dass er schnell abstürzen kann. Das erzeugt Stress und verengt den Blick. Ich habe als junger Mann selbst eine schwere Wirtschaftskrise als Facharbeiter und dann die Herausforderung als „Bildungspionier“ erlebt. Ich hatte Bohrwerkdreher gelernt, und ein aufmerksamer Berufschullehrer gab mir den Impuls, das Abitur und dann das Studium auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen. Wir hatten zwei kleine Kinder, da war das Geld eine ganze Zeit lang ziemlich knapp, und ernsthaft krank werden hätten wir uns damals auch nicht leisten können und natürlich hatten wir auch immer wieder Momente, wo wir uns fragten, schaffen wir das alles?


Was machte das mit Ihnen?
Meine Frau und ich haben uns mit großem Zutrauen und mit großer Kraft der Herausforderung gestellt. Das ist halt unsere Prägung. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die immer wieder ums Auskommen kämpfen musste: Die Schreinerei meines Großvaters im damaligen Zonenrandgebiet der Oberpfalz hatte den Eisernen Vorhang nicht überlebt, und mein Vater musste in den 60er Jahren als Arbeitsmigrant nach München. Meine Mutter verdiente als Hauswirtschafterin hinzu, um uns vier Kinder durchzubringen.


Das ist stark.
Ja, aber Menschen sind da sehr verschieden. Andere reagieren mit Resignation, Depression, Suchtverhalten. Manche mit Wut. In solchen Bahnen kann Armutsstress zu einem gesellschaftlichen Problem und zu einer Gefahr für die Demokratie werden, gerade in einem Land, in dem es in den letzten fast 80 Jahren immer nur aufwärts gegangen ist. Wir sollten die Bedeutung von sozialem Frieden nicht unterschätzen.


Also soll es der Sozialstaat richten?
Jeder tut in Freiheit das, was er kann, darüber hinaus aber erhält er Hilfe zur Selbsthilfe von der nächsthöheren Ebene bis hin zum Staat. Das Solidaritätsprinzip nimmt in der kirchlichen Soziallehre gleichfalls einen hohen Stellenwert ein. Auch aus diesem Grund bin ich über eine pauschale Kritik an unserem Sozialstaat nicht glücklich. Wir haben in Deutschland ein sehr gutes, ausdifferenziertes Netz. Die vielen Akteure des Sozialstaats bemühen sich um möglichst viele Menschen in ihren Lebenslagen mit ihren persönlichen Schwierigkeiten und Potenzialen. Dabei scheitert der Sozialstaat auch immer wieder. Und dennoch darf unser Einsatz für Hilfe- und Unterstützungsbedürftige nicht abbrechen. Das ist aus meiner Sicht auch eine zutiefst christliche Haltung. Dass das etwas kostet, ist klar, aber wir haben auch eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt, die von der Leitidee der sozialen Marktwirtschaft und dem Sozialstaat als Korrektiv für negative Marktprozesse profitiert. Das muss man in Relation sehen.


Tut die Politik genug gegen Armut?
Ja und nein. Einerseits leisten wir uns einen aufwändigen Sozialstaat, und aktuell nimmt der Staat 200 Milliarden Euro zusätzlich in die Hand, um die Energiepreise abzufedern. Andererseits werden Ökonomie, Soziales und Ökologie immer noch gegeneinander aufgerechnet und nicht als gleichwertige Faktoren für ein gelingendes, gerechtes Staatswesen und eine nachhaltige Gesellschaft betrachtet.


Wo setzt Ihr Verband, die Caritas an?
Indem wir versuchen, den Menschen in seiner konkreten Lebenssituation anzusprechen. Armut ist ja kein einheitliches Kausalitätsbild, sondern ist bei jedem Menschen anders akzentuiert, und wir müssen immer genau schauen, wie wir ganz individuell begleiten können. Oft steht die Unterstützung bei akuter Not zunächst im Vordergrund. Da geht es ganz profan um Essen, Kleidung oder ein Dach über dem Kopf. Aber auch Prävention ist wichtig. Die Menschen brauchen  Bildung, Beratung und nachhaltige Hilfen, um aus der Schuldenfalle zu kommen und um langfristig unabhängig von Almosen zu werden. Uns ist es auch wichtig einen Beitrag zu leisten, das Mindset zu ändern, damit die Menschen lernen, sich etwas zuzutrauen, Resonanz für den eigenen Willen und das eigene Tun zu schaffen, um aus der sozialen Abwärtsspirale rauszukommen.


Gibt es auch vererbte Armut?
Ja natürlich! Eingeschränkte Verhältnisse der Eltern steigern eindeutig das Risiko für Kinder, selbst in Armut zu geraten. Deshalb ist zum Beispiel die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe so wichtig. Ein Ziel ist es hier, Kinder und Jugendliche so zu stärken, dass sie es schaffen können, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Es geht darum, dass sie selbstwirksam werden und ein gutes Selbstwertgefühl aufbauen. Auch die Bildung spielt hier eine große Rolle. In Deutschland haben das vor mehr als hundert Jahren schon die Arbeiterbildungsvereine gemacht: Die Kinder der Arbeiterschicht sollten durch Bildung Wege aus der Armut finden.


Wie haben die Pandemie und der Krieg in der Ukraine die Situation verändert?
Schon die Corona-Pandemie führte, einhergehend mit Kurzarbeit, Jobverlust und dem Wegfall von Einkünften für Selbstständige zunehmend mehr Menschen zu uns, die zuvor in gesicherten Verhältnissen gelebt haben. Und dann kam noch der Krieg in der Ukraine und unzählige geflüchtete Menschen bei uns an. Ich bin den Münchnerinnen und Münchnern und den vielen Menschen in ganz Oberbayern sehr dankbar für ihre Unterstützung und Hilfsbereitschaft in diesen schwierigen Zeiten. Die aktuelle Krise mit der steigenden Inflation betrifft zunehmend Menschen in prekären Lebenssituationen. Immer mehr Bedürftige kommen etwa zur Münchner Korbinianküche, um dort kostenlos einen Teller Suppe und Brot zu erhalten. Für viele ist das die einzige Mahlzeit am Tag. Das Dilemma: Gleichzeitig erreichen uns seit Monaten weniger Lebensmittelspenden von Großhändlern und Supermärkten für unsere Essensausgabestellen. Wir müssen also Ware zukaufen. Auch die Nachfrage nach Schuldnerberatung steigt stark an. Und da sprechen wir nur von Menschen, die den Weg zu uns gefunden haben. Was ist aber mit der 85-jährigen Rentnerin, die jetzt Heizkosten spart, in ihrer Wohnung sitzt und friert? Ich fürchte, da kommt noch einiges auf uns zu.


Wie kann man aktuell Betroffenen helfen?
Wir müssen uns auf eine Ausweitung unserer Armutshilfen einstellen. Wer regelmäßig nicht weiß, wie er am Monatsende noch Lebensmittel bezahlen soll, der blickt mit großer Sorge auf die bevorstehenden kalten Monate. Wie die Heizkosten bezahlen, wie neue Winterschuhe oder Jacken für die Kinder? Über unseren Nothilfe-Fonds können wir unbürokratisch Gelder zur Überbrückung akuter finanzieller Engpässe auszahlen. Sozialkaufhäuser und Kleiderkammern ergänzen das Angebot. Hier gibt es Kleidung, Möbel und Haushaltsgeräte zum kleinen Preis oder auch kostenlos. Stark nachgefragt ist auch das Angebot „Stromspar-Check“. Unsere Mitarbeitenden schauen in den Haushalten nach Stromfressern und geben Tipps zum Energiesparen. Bedürftige Menschen – etwa Senioren und mit kleiner Rente – können auch Hilfsgeräte wie LED-Lampen, ausschaltbare Steckerleisten oder Kühlschrankthermometer erhalten. Schon kleine Spenden für unsere Armutshilfen bewirken sehr viel. Ein Beispiel: 5 Euro reichen aus, um zwei Suppen mit Brot ausgeben zu können. Jeder Betrag, ob klein oder größer, hilft Menschen in akuter Not.
 

Gerd Henghuber
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Spendenkonto: Caritasverband München und Freising, Stichwort: Armutshilfen, Liga-Bank, DE53 75 09 03 00000 2297 779

 

Dieses Interview ist in der Wochenendausgabe 15./16.10.2022 in der Abendzeitung München erschienen.