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Zwei Männer und eine Frau | © Robert Kiderle / Caritas München-Freising

„Sozialpolitik darf nicht zum Nebenthema werden”

Pressestelle der Caritas München und Oberbayern , München, 25.01.2024

Caritasdirektor Sollfrank verlangt eine Wohnungsbau- und Bildungsoffensive/ Teilnehmer der 3. Katholischen Armutskonferenz fordern einfache Verfahren/ Kardinal Marx moniert größer gewordene Abstände zwischen Arm und Reich

München, 25. Januar 2024. „Wer soziale Themen vernachlässigt oder durch politische Rhetorik gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausspielt, schadet unserem verfassten Sozialstaat, er schadet der Wirtschaft und vor allem unserer Gesellschaft!“ Deshalb forderte Caritasdirektor Prof. Dr. Hermann Sollfrank auf der 3. Katholischen Armutskonferenz der Caritas in München die Politik auf, die Ursachen der Armut zu bekämpfen, statt die Symptome. Dazu sei es notwendig, offensiv Sozialwohnungen zu bauen, in die Bildung zu investieren sowie soziale Beschäftigungsbetriebe finanziell besser auszustatten. Sollfrank unterstrich: „Sozialpolitik darf nicht zum Nebenthema werden.” Im Gegenteil: Bundes- und Landespolitik müssten Armutsthemen mehr in den Fokus nehmen. Denn es brauche inzwischen „sechs Generationen, um Armut zu durchbrechen”.

Reinhard Kardinal Marx monierte, dass die Abstände zwischen Arm und Reich während der Krisen der letzten Jahre größer geworden sind. „Das schafft Sprengkraft in der Gesellschaft“. Das christliche Menschenbild mache keinen Unterschied: „Jeder Mensch ist gleich an Würde. Keiner ist überflüssig. Das ist die Philosophie der Caritas”, bekräftigte Münchens Erzbischof und forderte einen Sozialstaat, der Rechte und Chancen vergibt, damit Armut überwunden werden könne. Es gehe darum, die Menschen zu stärken und sie in die Lage zu versetzen, ihr Schicksal wieder in die eigene Hand zu nehmen. Viele Menschen hätten heute jedoch keinen Zugang zu Grundbedürfnissen wie Gesundheit, Bildung und Arbeit. Deshalb müsse darauf geachtet werden, dass Menschen die ihnen zustehenden Transferleistungen wie Bürgergeld und Grundsicherung auch leicht erhalten. Dazu leisteten Caritas und katholische Verbände mit ihrer Beratungsarbeit ihren Beitrag.
 

„Armut, nicht Arme bekämpfen”

„Jeden Tag sehen wir Menschen, die Abfalleimer nach Pfandflaschen oder Essbarem durchsuchen, bettelnde Menschen, Menschen, die auf Parkbänken, in U-Bahnhöfen und in Ladeneingängen schlafen. Menschen, die um eine warme Mahlzeit anstehen“, beschreibt Caritas-Vorständin Gabriele Stark-Angermeier, die die sozialen Einrichtungen und Dienste der Caritas in München und Oberbayern verantwortet, die Situation in München und anderswo. „Wir versuchen zu helfen und zu unterstützen, wo immer es möglich ist und die Menschen zu stärken, dass sie möglichst ein selbstbestimmtes Leben führen können.“ Die Caritas hilft in der sozialen Beratung, über Schuldner- und Energieberatungen und bei Behördengängen. Zu den Essensausgaben der Korbinian- und Antonius-Küche, zu den Lebensmitteltischen und Kleiderkammern kommen täglich viele hundert Menschen, die Hilfe und soziale Kontakte suchen. Tendenz steigend. Streetworker sind auf den Straßen unterwegs, um einsame ältere Menschen oder andere Bedürftige anzusprechen und Hilfe anzubieten. „Soziale Einrichtungen müssen dynamisch und zuverlässig finanziert sein“, verlangt Stark-Angermeier, damit die Caritas weiterhin Hilfe zur Selbsthilfe leisten kann und sich Armut nicht verfestige. „Armutsbetroffene Menschen sind gleichberechtigte, gleichwertige und gleich kompetente Menschen und verdienen unseren Respekt“, so Stark-Angermeier: „Wir müssen Armut, nicht Arme bekämpfen.” Gerechtigkeit sei keine Sozialromantik, sondern Grundlage unserer Gesellschaft.
 

3. Katholische Armutskonferenz nimmt Sozialpolitik kritisch unter die Lupe

Durch die Krisen der vergangenen Jahre sei die Armutsgefährdung gestiegen und bestehende Armut habe sich weiter verfestigt. Deshalb sei der fachliche Austausch zu den aktuellen Entwicklungen im Rahmen der 3. Katholischen Armutskonferenz extrem wichtig, erklärte Harald Bachmeier, Geschäftsleiter der Caritas in München. Schon bei der Gründung der Caritas in München vor 125 Jahren zielte man auf die bessere Koordinierung der Hilfen. Auch wenn sich gesellschaftliche Strukturen, Form der Armut und der sozialstaatliche Rahmen verändert hätten, müssten Kirche und katholische Sozialverbände den Fokus auf die drängende Armutsproblematik und damit verbundene Ungerechtigkeiten richten. Dazu gehörten die Arbeit in den Einrichtungen und Diensten, die sozialpolitische Arbeit und die Teilnahme am öffentlichen Diskurs.

Verena Dietl bekannte sich als Sozialbürgermeisterin zu ihrer politischen Verantwortung, Armutsfaktoren auch in einer reichen Stadt wie München abzubauen. Aufgrund der hohen Wohn- und Lebenshaltungskosten in der Isarmetropole setze sich Politik und Stadtverwaltung seit vielen Jahren für höhere Regelsätze ein und schöpfe ihre Möglichkeiten aus, um höhere Beträge auszuzahlen. „Wir müssen darauf achten, dass sich Menschen auch in einer Stadt wie München ihr Leben leisten können.“

Dr. Ursula Weidenfeld, Wirtschaftsjournalistin und Merkel-Biografin, hat für ihren Vortrag die Hilfspakete der Bundesregierung gegen die Folgen der Krisen (Corona, Ahrflut, Ukrainekrieg, Klimawandel /CO2 Preis) in den Blick genommen und Erkenntnisse präsentiert. Während der Corona-Pandemie habe der Staat schnell und umfassend Maßnahmen zum Beschäftigungserhalt und zur Stabilisierung der Wirtschaft umgesetzt. Mit den durch den Ukrainekrieg ausgelösten hohen Inflationsraten und steigenden Energiekosten habe der Staat alle Bürger rasch und direkt, etwa durch Heizkostenzuschüsse, unterstützt. Eine weitere wirkungsvolle Maßnahme für soziale Teilhabe sei das 9-Euro-Ticket gewesen, weil es auch ärmeren Menschen Mobilität ermöglicht habe. Beeindruckt zeigte sich Weidenfeld von der schnellen Realisierung beim Übergang von Hartz IV zum Bürgergeld. Heftig kritisierte sie die hoch emotionalisierte Debatte um Sanktionen. Keine Studie weise signifikanten Missbrauch nach. Dies bestätigten, so Caritas-Vorständin Stark-Angermeier, auch die Erfahrungen der Sozialberatung.
 

Komplizierte Antragsverfahren

VdK-Präsidentin Verena Bentele monierte aufwändige Antragsverfahren und die Intransparenz des Systems. „Unser Sozialstaat ist extremst kompliziert. Menschen wird es schwer gemacht, Sozialanträge zu stellen.” Deswegen würden Ansprüche etwa aus dem Bildungs- und Teilhabepaket für die drei Millionen Kinder, die hierzulande in Armut leben, gar nicht abgerufen. Debatten über das Bürgergeld empfinde sie als “hochgradig merkwürdig“, vor allem, weil viele Familien Bürgergeld in Anspruch nehmen müssten. Das Narrativ, Arbeiten lohne sich nicht, sei ihrer Erfahrung nach nicht haltbar.

Anette Farrenkopf,Geschäftsführerin des Jobcenters München, freute sich über viele neue Instrumente wie zum Beispiel Coaching in der Einzelbetreuung von Kunden. Bei der Bürgergeldreform sei viel Erfahrung aus 17 Jahren Hartz IV eingeflossen und der Fokus auf Weiterbildung gelegt worden. Ein neu eingeführter Kundenbeirat im Jobcenter ermögliche direkten Austausch zum Beispiel beim Testen vor der Einführung digitaler Angebote. Farrenkopf dankte der Caritas für die gute Zusammenarbeit. Aus Sicht der Ökonomin Dr. Charlotte Bartels vom DIW Berlin ermutigte zum Umdenken und dazu, mehr Daten aus Simulationen zu nutzen. Daraus könnten Schlüsse gezogen werden, ob wirklich neue Gesetze geschaffen werden müssten oder Transferleistungen wie Wohngeld und Bürgergeld nicht besser zusammen zu denken wären. Bruder Paulus Terwitte, Kapuzinermönch und Autor konstatierte, dass „soziale Arbeit zu wenig als gemeinsame Kulturaufgabe gesehen“ wird.

Einig war sich das Podium, dass die überbordende Bürokratie rasch vereinfacht werden müsse, damit die Hilfe schneller bei den Menschen ankomme. Caritasdirektor Sollfrank fasste es so zusammen: "Keep it simple” und schlug die Bündelung von Sozialanträgen an einer einzigen Stelle vor. Caritas-Vorständin Gabriele Stark-Angermeier verlangte eine Sozialpolitik, die sich noch mehr an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Menschen, zum Beispiel auch psychisch belasteter Menschen orientiert.
 

Musikprojekt SUPERAR München überwindet Grenzen

Zum Abschluss der 3. Katholischen Armutskonferenz sangen 50 Kinder der 1. und 4. Klasse des SUPERAR-Chores an der Ruth-Drexel-Schule drei Lieder in drei verschiedenen Sprachen. Sie zeigten mit ihrem Auftritt, wie einfach durch Musik kulturelle, religiöse, sprachliche und ökonomische Grenzen überwunden werden können. Das Musikprojekt SUPERAR fördert derzeit 300 Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien und wird durch Spendenmittel finanziert. Weitere Infos und die Spendenmöglichkeit Superar-Musikprojekt (caritas-nah-am-naechsten.de).
 

Neuer Armuts-Leitfaden der Caritas München

Um den von Armut betroffenen Menschen eine Stimme zu geben, wurden während der Konferenz drei Kurzvideos mit Beispielen aus der Armutsarbeit ausgespielt. Zehn Plakate illustrierten zudem Aussagen von Betroffenen. Der neue Caritas-Leitfaden „Arm in München“ wurde auf der Armutskonferenz vorgestellt und zeigt Handlungsoptionen für einen differenzierten Umgang mit Armut und Betteln auf Münchens Straßen: Arm in München - Leitfaden für einen differenzierten Umgang mit Armut und Betteln auf Münchens Straßen (Download)

Veranstalter der 3. Katholische Armutskonferenz war die Caritas München im Rahmen des 125-jährigen Jubiläums der Caritas in München in Zusammenarbeit mit Vertreterinnen und Vertretern der katholischen Sozialverbände, kirchlicher Einrichtungen und ehrenamtlicher Caritas-Gremien. (md)

 

Weitere Informationen zur steigenden Armutsgefährdung und wie Sie helfen können finden Sie hier:

www.caritas-muenchen-oberbayern-armut.de

www.caritas-muenchen-oberbayern-spenden-armut.de

Arm in München - Leitfaden für einen differenzierten Umgang mit Armut und Betteln auf Münchens Straßen (Download)

 

Bildunterschrift: Caritasdirektor Prof. Dr. Hermann Sollfrank, Reinhard Kardinal Marx, Vorständin Gabriele Stark-Angermeier (v. li.)

Foto: Robert Kiderle/Caritas München-Freising

von Manuela Dillmeier | Pressestelle

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Pressemeldung zur 3. Katholische Armutskonferenz
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Ansprechpartner/-in

Bettina Bäumlisberger

Bettina Bäumlisberger - Pressesprecherin & Leitung Pressestelle | © Marcus Schlaf
Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Pressesprecherin Portal Aktuelles und Themen | Caritas München und Oberbayern